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Allan Kardec

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Theorie der Halluzinationen


111. Diejenigen, welche die unkörperliche und unsichtbare Welt nicht anerkennen, glauben mit dem Wort Halluzinationen alles erklären zu können. Die Definition dieses Wortes ist bekannt; es ist ein Irrtum, eine Täuschung einer Person, welche glaubt, Wahrnehmungen zu haben, die sie tatsächlich nicht hat (von dem lateinischen allucinari: irren gemacht durch Licht); allein die Weisen haben unseres Wissens bisher noch nicht den physiologischen Grund davon angegeben.



Die Optik und die Physiologie scheinen für sie keine Geheimnisse mehr zu haben; wie kommt es also, dass sie die Quelle und Natur der Bilder noch nicht erklärt haben, welche sich in gewissen Umständen dem Geist zeigen? Sie wollen alles durch die Gesetze der Materie erklären, bitte; dann sollten doch nach diesen Gesetzen eine Theorie der Halluzination aufstellen, gut oder schlecht, es wird immer eine Erklärung sein.


112. Die Ursache der Träume ist noch nie durch die Wissenschaft erklärt worden. Sie schreibt sie einer Wirkung der Einbildungskraft zu; aber sie sagt uns nicht, was die Einbildungskraft ist, noch wie sie diese so klaren, so deutlichen Bilder, die uns manchmal erscheinen, hervorbringt. Das heißt eine Sache, welche unbekannt ist, durch eine andere erklären, die es nicht weniger ist. Die Frage bleibt also voll und ganz bestehen. Man sagt, das ist die Erinnerung an die Sorgen des Vortages, aber selbst wenn dies zuträfe, genügt es nicht, es bliebe herauszufinden, welcher der Zauberspiegel ist, der so treu den Eindruck der Sachen behält? Wie sollte man insbesondere die Vision reeller Dinge erklären, die man nie im wachen Zustand gesehen und an die man nicht einmal gedacht hat? Der Spiritismus allein konnte uns zu diesem sonderbaren Phänomen den Schlüssel geben, welches unbeachtet vorübergeht, gerade wegen seiner Allgemeinheit so wie alle Wunder der Natur, die wir mit Füßen treten.


Die Gelehrten haben es verschmäht, sich mit den Halluzinationen zu beschäftigen; ob sie wirklich bestehen oder nicht, sie sind nichtsdestoweniger ein Phänomen, welches die Physiologie imstande sein muss aufzuklären, weil sie sonst ihr Unvermögen gestehen würde. Wenn es eines Tages ein Gelehrter unternimmt, nicht etwa eine Definition, verstehen wir uns richtig, sondern eine physiologische Erklärung davon zu geben, so werden wir sehen, ob diese Theorie alle Fälle aufklärt, ob sie nicht insbesondere die so allgemeinen Tatsachen der Erscheinungen von Personen im Moment ihres Dahinsterbens weglässt. Sie soll sagen, woher das Zusammentreffen der Erscheinung mit dem Tod der Person kommt. Wenn das ein vereinzelter Fall wäre, so könnte man ihn dem Zufall zuschreiben, aber da es sehr häufig geschieht, so hat der Zufall keine solche Wiederkehr. Wenn noch derjenige, der die Erscheinung sieht, von dem Gedanken befallen wäre, dass die Person sterben müsse, so ginge es noch an; aber die erscheinende Person ist am häufigsten eine, an welche man am wenigsten denkt; da ist also die Einbildungskraft zunichte. Man kann noch weniger durch die Einbildungskraft die Umstände des Todes erklären, von dem man keine Idee hat.


Werden die Halluzinationisten sagen, dass die Seele (wenn sie an eine Seele glauben) Momente der Überreizung habe, wo ihre Fähigkeiten erhöht sind? Wir sind damit einverstanden; wenn aber das, was sie sieht, wirklich besteht, so ist es keine Illusion. Wenn die Seele in ihrer Exaltation etwas sieht, was nicht gegenwärtig ist, so ist es darum, weil sie sich überträgt; wenn aber unsere Seele sich zu einer abwesenden Person übertragen kann, warum sollte sich die Seele dieser Person nicht auch zu uns übertragen? Mögen sie in der Theorie der Halluzination dieser Tatsache Rechnung tragen und nicht vergessen, dass eine Theorie, welcher man konträre Fälle entgegensetzen kann, notwendigerweise falsch oder unvollständig sein muss. In der Erwartung einer Erklärung werden wir indessen versuchen einige Erläuterungen über diesen Gegenstand zu geben.


113. Tatsachen beweisen, dass es wirkliche Geistererscheinungen gibt, worüber die spiritistische Theorie vollkommen Aufschluss gibt, und die nur diejenigen leugnen können, welche außerhalb des Organismus nichts zugeben; aber nebst reeller Visionen gibt es da Halluzinationen im wahren Sinne des Wortes? Zweifelsohne. Was ist die Quelle derselben? Es sind die Geister, welche uns auf den wahren Weg bringen; denn die Erklärung erscheint uns vollständig in den folgenden, auf gestellte Fragen gegebenen Antworten:



1) Sind Visionen immer reell, und sind sie nicht manchmal eine Wirkung der Halluzination? Wenn man im Traum oder sonst z.B. den Teufel oder andere phantastische Sachen sieht, welche nicht bestehen, ist das nicht ein Produkt der Phantasie?
„Ja, manchmal, wenn man durch bestimmte Lektüren erschüttert ist, oder durch Teufelsgeschichten, welche beeindrucken, dann erinnert man sich daran und glaubt zu sehen was es gar nicht gibt. Aber wir haben auch gesagt, dass der Geist in seiner halbmateriellen Hülle alle möglichen Formen annehmen kann, um sich zu manifestieren. Ein Spottgeist kann also mit Hörnern und Krallen erscheinen, wenn er will, um mit Leichtgläubigen sein Spiel zu treiben, so wie ein guter Geist sich mit Flügeln und in einer strahlenden Gestalt zeigen kann.”


2) Kann man die Figuren oder andere Bilder als Geistererscheinungen, ansehen, die sich uns im Halbschlaf zeigen oder wenn man bloß die Augen schließt, zeigen?
„Sobald die Sinne benommen werden, befreit sich der Geist und kann in der Ferne oder in der Nähe Dinge sehen, die er mit den Augen nicht sehen könnte. Diese Bilder sind sehr oft Visionen; aber sie können auch eine Wirkung von Eindrücken sein, die beim Anblick gewisser Objekte entstehen, dessen Spuren das Gehirn bewahrt, wie es jene von Tönen behält. Der befreite Geist sieht diese Eindrücke in seinem eigenen Gehirn, die sich dort wie ein soeben aufgenommenes Bild auf die photographische Platte festsetzen. Ihre Verschiedenheit und ihre Vermischung bilden ein bizarres und flüchtiges Ganzes, das sich nahezu gleich verliert, ungeachtet aller Anstrengungen, die man macht, es zu behalten. Einer solchen Ursache muss man gewisse Phantasie-Erscheinungen zuschreiben, die nichts bedeuten und oft im Krankheitsstand vorkommt.


Es ist erwiesen, dass das Gedächtnis das Resultat der Eindrücke ist, welche das Gehirn zurückbehalten hat. Aber durch welches eigenartige Phänomen vermischen sich diese verschiedenen, vielfältigen Eindrücke nicht? Das ist ein unerklärliches Geheimnis, welches aber nicht mehr befremdet, als jenes der Tonwellen, die sich in der Luft kreuzen und nichtsdestoweniger voneinander unterscheidbar sind. In einem gesunden, wohlorganisierten Gehirn sind diese Eindrücke deutlich und bestimmt, in einem weniger günstigen Zustand vermischen und verwirren sie sich; daher stammt das Schwinden des Gedächtnisses oder die Verwirrung der Ideen. Dies erscheint noch weniger außerordentlich, wenn man, wie in der Phrenologie (früher Schädellehre), für einen jeden Teil, ja sogar für eine jede Faser des Gehirnes eine besondere Bestimmung annimmt.


Die durch die Augen zum Gehirn gelangten Bilder lassen dort einen Eindruck zurück, der bewirkt, dass man sich an ein Bild erinnert, als wenn man es vor sich hätte; aber es ist immer nur eine ausschließliche Sache des Gedächtnisses, denn man sieht es nicht. Also in einem gewissen Zustand der Freiheit sieht die Seele ins Gehirn und findet darin wieder diese Bilder, besonders jene, die am meisten beeindruckt haben; je nach der Art der Sorge oder dem Zustand des Geistes. So geschieht es, dass sie darin den Eindruck religiöser, diabolischer, dramatischer, weltlicher Szenen und Figuren findet, welche sie zu einer anderen Zeit entweder in einem Gemälde oder auch in einer Erzählung gesehen hat; denn auch Erzählungen lassen Eindrücke zurück. Die Seele sieht also in der Tat, aber sie sieht nur ein daguerreotypisches Bild im Gehirn. (Nach dem Erfinder der Fotografie: Daguerre). Im normalen Zustand sind diese Bilder flüchtig und von kurzer Dauer, weil alle Teile des Gehirnes frei wirken, aber im Krankheitszustand ist das Gehirn immer mehr oder weniger geschwächt, das Gleichgewicht besteht nicht unter allen Organen, nur einige behalten ihre Tätigkeit, während andere gewissermassen gelähmt sind, und daher kommt die Stetigkeit gewisser Bilder, die nicht so leicht wie im normalen Zustand durch die Vorbeschäftigung des äußeren Lebens verwischt werden. Das ist die wahre Halluzination und die erste Ursache zu fixen Ideen.


Wie man sieht, haben wir über diese Anomalie durch ein ganz physiologisches, wohlbekanntes Gesetz Aufschluss gegeben, nämlich jenes der Gehirneindrücke; aber wir mussten immer die Seele mitwirken lassen. Nun denn, wenn die Materialisten bisher keine genügende Erklärung dieses Phänomens geben konnten, so ist es eben darum, weil sie eine Seele nicht zugeben wollen. Auch werden sie sagen, unsere Erklärung sei schlecht, weil wir die Seele als Grund gelten lassen, was bestritten wird. Bestritten durch wen? Durch sie; aber zugelassen durch eine immense Mehrheit, solange es nur Menschen auf der Erde gibt, und die Negation einiger kann kein Gesetz machen.


Ist unsere Erklärung auch gut? Wir erteilen sie, weil sie in Ermangelung einer anderen gelten kann, und wenn man es so haben will, in der Erwartung eines besseren, als bloße Hypothese.


Gibt sie so, wie sie ist, genügend Erklärung für alle Visionen?


Gewiss nicht, und wir fordern alle Physiologen auf, sie sollen eine Erklärung aufstellen, welche alle Visionen umfasst, denn als sie ihre Schlagworte: Überreizung und Aufregung gesprochen haben, haben sie damit nichts gesagt. Wenn also alle Theorien der Halluzination ungenügend sind, um alle Tatsachen zu erklären, so kommt es daher, dass darin etwas anderes steckt als die sogenannte Halluzination.


Unsere Theorie wäre falsch, wenn wir sie auf alle Fälle der Visionen anwenden wollten, weil es solche gibt, die ihr widersprechen, sie kann aber richtig sein, wenn sie nur auf gewisse Wirkungen bezogen wird.